Growth scheint der neue heiße Shit im Product Management zu sein. Bei immer mehr Stellenanzeigen geht es um die Rolle des Growth Product Managers. Trotzdem ist das Thema noch nicht überall angekommen und viele fragen sich, was das alles mit Produktmanagement zu tun hat.
Growth Product Manager oder Growth Hacker?
Growth Product Manager – um was geht’s denn?
Der Begriff Growth Hacking bezog sich ursprünglich auf neue und kostengünstige Ansätze im Online-Marketing, um Wachstum zu beschleunigen. Growth Hacking wurde bisher hauptsächlich mit Firmen in der Startup-Phase assoziiert, gewinnt aber zunehmend bei etablierten Unternehmen an Bedeutung.
Sean Ellis beschreibt schon 2010 in einem Blog Post einen Growth Hacker wie folgt:
A growth hacker is a person whose true north is growth. Everything they do is scrutinised by its potential impact on scalable growth. […] The right growth hacker will have a burning desire to connect your target market with your must have solution.
Sean Ellis: Find a Growth Hacker for Your Startup
Was macht denn aber genau ein Growth Hacker und wie unterscheidet er sich von einem Growth Product Manager, und vor allem: Was macht dann ein Produktmanager in Zukunft noch?
Der Growth Product Manager – Interview mit Jakob Gehring
Fragen wir doch einen Experten, der sich schon seit einer ganzen Weile mit dem Thema beschäftigt und beide Rollen kennt – die des Product Managers und die des Growth Product Managers:
Martin: Hi Jakob, magst du Dich kurz vorstellen?
Jakob: Sehr gerne, Martin. Ich bin bei mobile.de der Product Lead für den Bereich Growth.
Martin: Seit wann beschäftigst Du Dich mit dem Thema und wie würdest Du einem Laien erklären, was es mit dem Begriff „Growth“ auf sich hat?
Jakob: Man kann den Begriff Growth schon sehr einfach mit Wachstum übersetzen. Das klingt dann zwar nicht mehr so cool, gibt aber die Bedeutung, die der Begriff für das Unternehmen hat, wieder. Jedes Unternehmen möchte wachsen. Bei Growth geht es jedoch darum, dem Thema genügend Wichtigkeit zu geben und mit der richtigen Strategie zu verfolgen. Seit Mitte 2019 begeistere ich mich immer mehr dafür. Anfangs noch neben meiner „normalen“ Produktmanager Rolle, die sich nun nach und nach verändert hat.
Martin: Wie ordnest Du dem wiederum den Begriff “Growth Hacking” zu?
Jakob: Das ist eine interessante Frage. Grundsätzlich verstehen die meisten das gleiche unter den beiden Begriffen „Growth“ und „Growth Hacking“. Ich sehe aber eine Herausforderung beim „Hacking“. Hier gehen wir von einer kurzfristigen oder schnellen Änderung beziehungsweise Lösung für unsere Probleme aus. Also mal schnell ein wenig die Conversion Rates (CRO) optimieren und fertig sind wir. Der Growth Hacker ist hier der einzelne Optimierer, der punktuelle Verbesserungen im Produkt treibt. Bei Growth geht es aber um mehr als nur CRO. Es ist ein Mindset und dieses Mindset muss im Unternehmen strategisch, übergreifend und nachhaltig verankert werden.
Martin: Welche Fähigkeiten muss ein Growth Product Manager Deiner Meinung nach mitbringen?
Jakob: Zuerst kommt natürlich der Spaß an diesem Thema. Das klingt banal, aber zu oft erlebe ich, dass einfach die Leidenschaft fehlt. Um die erforderlichen Fähigkeiten zu benennen, muss man sich die Themenwelt, die ein Growth Produktmanager bearbeitet, anschauen. In der Basis unterscheidet sich das nicht vom klassischen Produktmanagement. Ein wichtiger zusätzlicher Aspekt ist aber das Marketing. Da es bei Growth natürlich auch um die Akquise geht, müssen wir uns damit auseinandersetzen, welche Methoden und Kanäle für unsere Wachstumspotenziale in Frage kommen.
Meiner Meinung nach sollte ein Growth Product Manager in der Lage sein, die Firma als Ganzes überblicken zu können. Schaue ich mir dann die Einzelteile und deren Zusammenhänge an, kommen viele Fragen auf, die ich entweder mit Hilfe von Daten oder durch Research beantworten muss. Ich muss eine Affinität für die Nutzerpsychologie mitbringen. Zu guter Letzt sollte man flexibel und offen für Neues sein. Es steht in den seltensten Fällen von vornherein fest, über welchen Weg man am Ende die Wachstumsprobleme lösen wird.
Martin: Wo liegt hier der Unterschied zum “normalen” Product Management und sollte in Zukunft nicht jeder ein “Growth Product Manager” sein?
Jakob: Das ist vielleicht einer der wichtigsten Aspekte und einer der häufigsten Missverständnisse. Meiner Meinung nach müssen und sollten beide Arten des Produktmanagements nebeneinander existieren. Sie ergänzen sich sogar. Während beim klassischen Produktmanagement versucht werden sollte, direkt die Probleme der Nutzer anzugehen und zu lösen, wird mit Hilfe von Growth eine Nachhaltigkeit in Bezug auf Nutzergewinnung und die weitere Wertschöpfung geschaffen.
Auch wenn wir gemeinsam an den gleichen Zielen arbeiten, tun wir das mit verschiedenen Prioritäten. Während sich der klassische Produktmanager zum Beispiel um die Experience eines Features kümmert, könnte sich der Growth Manager um die Verbesserung der Nutzungsrate des gleichen Features kümmern. Daher würde ich nicht alle Produktmanager gleichermaßen mit Growth betrauen.
Martin: Wie arbeiten dann beide zusammen, wenn die Ziele und Prioritäten unterschiedlich sein können?
Jakob: Grundsätzlich sollte es eine North Star Metrik im Unternehmen geben. Wir arbeiten also mit dem gleichen Ziel in eine Richtung. Oft teilen wir unser Produkt anhand von Abteilungen des Unternehmens oder Nutzergruppen auf. Hier liegt einer der wesentlichen Unterschiede. Als Growth Produktmanager arbeitest du an allen Bereichen des Produkts. D.h. die Absprache unter den Kollegen ist essentiell. Hier kann man sich wunderbar über Produktziele und die dazugehörige Roadmap abstimmen, wenn man über einen längeren Zeitraum spricht. Nicht zuletzt dienen dann auch OKRs (Objectives and Key Results) als Mittel zur Verständigung über kurz- beziehungsweise mittelfristige Initiativen.
Martin: Wie funktioniert Growth Management bei etablierten Unternehmen, die in einem schon gut entwickelten oder sogar gesättigten Markt sind?
Jakob: Das Grundprinzip ist das gleiche. Wir stellen uns die Frage, wie wir am besten Nutzer gewinnen, im Produkt halten und aus dem geschaffenen Wert wieder neue Nutzer gewinnen können. Je nachdem in welcher Phase sich das Unternehmen befindet, schauen wir erstens auf unterschiedliche Ziele und zweitens daraus folgend auf unsere verschiedenen Möglichkeiten. Konkret heißt das, bei Startups müssen wir uns darum kümmern, erst einmal neue Nutzergruppen anzusprechen, vielleicht findet man uns zum Beispiel gar nicht bei Suchmaschinen.
Im Gegensatz dazu stehen etablierte Unternehmen. Hier geht es mehr darum, den Marktanteil zu verteidigen oder weiter zu auszubauen. Das schafft man mit Hilfe von Optimierungen im Produkt oder dem Hinzufügen von mehr Optionen für den Kunden. Wenn wir nicht mehr so viel Potenzial haben, neue Nutzer zu akquirieren, müssen wir uns mehr um unsere bestehenden Nutzer kümmern. Wir sprechen hier von „Retention“. Das heißt, die Erhöhung des Wertes eines einzelnen Nutzers. Gesundes Wachstum bedarf aber immer einer Betrachtung und der Beantwortung aller drei Fragen.
Martin: Bei digitalen Plattformen gibt es in der Regel Anbieter und Konsumenten. Gibt es Unterschiede beim Growth Management in Bezug auf diese Zielgruppen?
Jakob: Grundsätzlich nicht. Hier ist auch noch einmal wichtig, auf meine vorherige Aussage zurückzukommen. Growth ist ein Mindset und sollte im ganzen Unternehmen verankert sein. Es nützt wenig, das Thema Growth nur für eine Nutzergruppe anzugehen. Oft, und gerade bei Marktplätzen, hängen die verschiedenen Gruppen voneinander ab oder ermöglichen Potenziale. Growth ist ein ganzheitliches Handwerk. Wir müssen den einzelnen Nutzer immer im Gesamtkonstrukt sehen.
Martin: Wie sieht denn ein ideales Growth Team im Vergleich zu einem “klassischen” Product Team aus?
Jakob: Im Vergleich zum klassischen Team-Setup mit einem Produkt Manager, Designer, Tech-Lead plus den Entwicklern, sehe ich vor allem den Produktanalysten als unverzichtbar. Ohne tiefergehende Analysen lassen sich die Probleme und Limitierungen einzelner Bereiche im Produkt nur sehr schwer aufzeigen. Welche zusätzlichen Professionen man benötigt, ist vom Produkt abhängig. Die Akquisestrategie gibt hier die Richtung vor. Wichtig ist die direkte Einbindung in das Team, egal ob wir auf Suchmaschinen, Pressearbeit oder Werbeanzeigen setzen. Liegt der Fokus des Growth Team auf „Engagement“, sollten wir auch einen Experten für die Kommunikation mit den Kunden beziehungsweise den Nutzern im Team haben.
Martin: Was sind die größten Hürden, das Thema “Growth” in einer Produktorganisation einzuführen?
Jakob: Für mich ist Growth die gut geölte Maschine, die das Unternehmen voranbringt. Organisationen stehen sich oft selbst im Weg. Wir teilen uns auf nach Benutzergruppen, Geschäftsbereichen oder Plattformen. Das macht die Zusammenarbeit schwieriger und bedarf einer guten Abstimmung. Hier sehe ich Growth als eine Art Verbindungsglied. Eine Herausforderung ist dabei vor allem das Zusammenführen aller Beteiligten unter den gleichen Zielen und das Schaffen eines einheitlichen Verständnisses wie das Unternehmen wächst.
Martin: Jakob, ich danke Dir für das Gespräch!
Welche Erfahrungen habt Ihr bereits mit Growth im Produktmanagement gemacht? Hinterlasst uns gerne einen Kommentar oder schreibt uns direkt an.
Über Jakob Gehring
Jakob Gehring kann auf mehr als zwei Jahrzehnte der Arbeit mit digitalen Produkten zurückblicken. Im Laufe der Jahre ist er als Entwickler mit vielen Technologien und Branchen in Berührung gekommen. Darunter die Entwicklung des Online-Bankings für die Commerzbank, die Veröffentlichung einer iOS-App für Toshiba Medical oder das Erstellen eines Abrechnungssystems für ein AdTech-Startup. Schließlich hat er seinen Platz im Produktmanagement gefunden, um seinen Wunsch, den Nutzer zu verstehen, mit seiner Leidenschaft für Daten zu kombinieren.
Literaturtipp
Klickt, kauft und macht uns reich – der Literaturtipp zum Thema Growth Hacking:
Bild 1: Gipfel des Mount Akadake (Japan) von Martin Heckmann